Warum haben Islamisten ein Problem mit Juden?

Der Islamismus ist eine politische Ideologie der Moderne. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts löste sich das Osmanische Reich, das sich als Hüter der islamischen Gemeinschaft verstand, langsam auf, und europäische Großmächte gewannen an politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Einfluss. Nach dem Ersten Weltkrieg zogen die Siegernationen Großbritannien und Frankreich neue Grenzen und setzten in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens von ihnen kontrollierte Regierungen ein oder wirkten als Mandatsmächte.
Viele Muslime erkannten in diesem gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch nicht nur einen Niedergang ihrer politischen Unabhängigkeit, sondern auch eine schwere Krise ihrer Kultur und Religion. Einige forderten eine verstärkte Besinnung auf den Glauben, wovon sie sich eine Rückkehr zu der alten Stärke der islamischen Welt erhofften.
Die bis heute bedeutendste Gruppierung ist die 1928 durch den Ägypter Hasan al-Banna (1906-1949) gegründete Muslimbruderschaft (arabisch: al-ikhwan al-muslimun). Sie gilt als die erste islamistische Bewegung. Die Muslimbrüder gründeten viele soziale Einrichtungen und lebten nach strengen islamischen Moralvorstellungen, so gewannen sie großes Ansehen und neue Unterstützer in Ägypten und bald auch in den Nachbarländern. In den 1930er Jahren forderten die Muslimbrüder verstärkt die Befreiung der islamischen Länder von den fremden Mächten und den Kampf gegen die europäischen, als dekadent empfundenen Werte. Hasan al-Banna sah dabei auch den bewaffneten Dschihad (arabisch: Anstrengung, im übertragenen Sinne auch „heiliger Krieg“) als legitimes Mittel. Neben Ägypten wurde dabei ein Land zum zentralen Schauplatz: Palästina, das in Teilen später zum Staat Israel wurde
. Seit 1920 hatte Großbritannien das Völkerbundsmandat für Palästina inne und verfolgte gemäß dem Mandatsvertrag von 1922 die „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“. Damals bestand die überwiegende Mehrheit der in Palästina lebenden Menschen aus Muslimen (ca. 600.000); die Juden (weniger als 100.000) waren in der Minderheit. Die ansässigen muslimischen (und christlichen) Araber sahen sich jedoch bald gegenüber den Juden, die nun zunehmend aufgrund des antijüdischen Klimas in Europa nach „Eretz Israel“ (hebräisch: Land Israel) emigrierten, in ihren nationalistischen Bestrebungen benachteiligt. Während des Ersten Weltkrieges hatte Großbritannien den arabischen Führern mehrfach politische Autonomie in einem eigenen Staat zugesichert, um sich ihrer Unterstützung im Kampf gegen das Osmanische Reich und Deutschland gewiss zu sein. Gleichzeitig war jedoch in der „Balfour-Deklaration“ von 1917 die „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ versprochen worden. Als den Muslimen der britische Betrug allmählich bewusst wurde und sie ihre Heimat durch die immer weiter voranschreitende Einwanderung der Juden als zunehmend bedroht empfanden, steigerten sich die Unruhen bis hin zu einem arabischen Aufstand (1936-1939), den antibritische wie antijüdische Gewalt- und Streikaktionen kennzeichneten.
In dieser Zeit fand die antisemitische Hetzpropaganda der deutschen Nationalsozialisten Eingang in die arabisch-islamische Unabhängigkeitsbewegung. Die muslimischen Akteure betrachteten Deutschland, das gegen Großbritannien im Krieg war und die totale Vernichtung des Judentums anstrebte, als ihren logischen Verbündeten. Der Mufti von Jerusalem, Muhammad Amin al-Husseini (ca. 1893-1974), kopierte die Propaganda der Nationalsozialisten und hetzte in den Medien gegen die Juden. Gleichzeitig fanden arabische Übersetzungen von Hitlers „Mein Kampf“ und der „Protokolle der Weisen von Zion“ Verbreitung. Bei den „Protokollen“ handelt es sich um eine antisemitische Fälschung angeblicher Geheimdokumente eines Treffens von jüdischen Weltverschwörern, die seit 1903 zunächst in Russland und zwei Jahrzehnte später auch schon in den USA kursierten.
Die Staatsgründung Israels 1948 befeuerte noch einmal die antijüdische Propaganda. Zu den bis heute unheilvollsten Schriften zählt die eines der bedeutendsten Denker der Muslimbrüder: „Unser Kampf mit den Juden“ von Sayyid Qutb (1906-1966) aus dem Jahr 1950. Qutb geht davon aus, dass die Juden schon immer die schlimmsten Feinde der Muslime gewesen seien und das Gott Hitler geschickt habe, um sie zu bestrafen. In seiner Argumentation greift Qutb einerseits auf Jahrhunderte alte antijüdische Stereotype zurück, die die Europäer im Zuge der Kolonialisierung in die islamische Welt gebracht haben. Dazu zählt beispielsweise die Ansicht, die Juden planten eine Verschwörung, um die Herrschaft über die Welt und die Finanzmärkte zu gewinnen. Andererseits versucht Qutb, seine Judenfeindschaft aus den religiösen Quellen heraus islamisch zu begründen. So schuf er neue antijüdische, spezifisch islamische Klischees wie beispielsweise die Vorstellung, die Juden hätten den göttlichen Bund gebrochen (Sure 5, Vers 13), die Heilige Schrift verfälscht (Sure 2, Vers 59 und 75) und Propheten umgebracht (Sure 2, Vers 61). Als besonders eindrücklich und bis heute in vielen Karikaturen von Juden genutzt erwies sich das Bild von den Juden als „Affen und Schweinen“, in die Gott sie aufgrund ihrer Sünden verwandelt haben soll (Sure 2, Vers 65, Sure 5, Vers 60 und Sure 7, Vers 166).
Moderate Muslime betonen statt solcher trennender Verse die große theologische Nähe von Judentum und Islam: So finden sich viele biblische Geschichten auch im Koran wieder, das Gottesbild ähnelt sich, ebenso die Ge- und Verbote der Gläubigen im Alltagsleben wie beispielsweise das Verbot von Schweinefleisch oder die Praxis der Beschneidung.
Geschichts- und Islamwissenschaftler stellen die problematischen Verse in den historischen Zusammenhang: So war Muhammad stark durch jüdische und christliche Glaubensvorstellungen beeindruckt und hat diese zum großen Teil übernommen, distanzierte sich jedoch im Laufe der Jahre immer stärker von den Vorgängerreligionen, indem er das biblische Erbe islamisierte. Einerseits musste er sich von dem Vorwurf befreien, dieses lediglich zu kopieren, andererseits erweckte die hartnäckige Weigerung vor allem der Juden, zum Islam zu konvertieren und Muhammad als religiösen und politischen Führer anzuerkennen, seinen Zorn. Im Zuge der Eroberung der arabischen Halbinsel war es daher auch zu Massakern an der jüdischen Bevölkerung gekommen. Verglichen mit der Situation der Juden im christlichen Europa, wo sie dauerhafter Diskriminierung und regelmäßiger Verfolgung bis hin zur Vernichtung (Holocaust) ausgesetzt waren, ist das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden jedoch eher als ein positives zu beschreiben. Legendär sind „die goldenen Zeiten“ im Spanien des 8. bis 15. Jahrhunderts, wo Judentum und Islam zu einer gemeinsamen Blüte in Wissenschaft und Kultur gelangten. Zu Verfolgungen kam es dort, wo Juden gesellschaftlich und politisch aufstiegen und gegen den ihnen zugewiesenen Status von Schutzbefohlenen (arabisch: dhimma), der unter anderem die Zahlung einer Abgabe an die muslimischen Herrscher (arabisch: dschizya) und eine spezielle Kennzeichnung ihrer Kleider beinhaltete, rebellierten.
Mit dem eigenen Staat Israel haben die Juden ihre Jahrtausende alte Rolle einer kleinen religiösen Minderheit innerhalb des islamischen Machtbereichs verlassen. Stattdessen fügten sie in mehreren Kriegen den arabischen Nachbarländern empfindliche Niederlagen zu. Viele islamisch geprägte Länder empfinden den Staat Israel als Fremdkörper im Nahen Osten, zumal sich in Jerusalem (arabisch: al-Quds) mit der al-Aqsa-Moschee ein zentrales islamisches Heiligtum befindet. Der Antizionismus, also die Aberkennung des Existenzrechts Israels, ist heute ein fester ideologischer Bestandteil der meisten islamistischen Gruppierungen. Der Kampf gegen das Judentum allgemein ist damit nicht zwangsläufig gemeint, wenngleich die Grenzen zum Antisemitismus, dem generellen Hass auf Juden aufgrund rassistischer Motive, fließend sind.
Ein Beispiel hierfür ist die Charta der Hamas von 1988. Die Hamas wurde 1987 als palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft gegründet mit dem Ziel, den Staat Israel mit terroristischen Mitteln zu bekämpfen und einen unabhängigen islamischen Staat Palästina zu gründen. Die Charta spricht zumeist verallgemeinernd von „den Juden“, Israel wird als „zionistisches Gebilde“ bezeichnet. Die Juden seien der immerwährende Feind des Islams, und die Pflicht eines jeden Muslims bestünde darin, sie alle zu töten (Artikel 7). Die bösen Absichten der Juden seien bereits in den „Protokollen der Weisen von Zion“ nachzulesen (Artikel 32). Sie betrieben eine Verschwörung gegen die ganze Welt und versuchten diese, aus Gier- und Machtbestreben heraus zu erobern. Mit ihrem Geld hätten sie bereits die Kontrolle über die Medien ergriffen und überall geheime Organisationen gegründet. „Es gab keinen Krieg, der ausbrach, ohne dass sie nicht die Hände im Spiel hatten.“ Dazu zählten die Französische Revolution, der Imperialismus, der Kommunismus und sogar der Erste und Zweite Weltkrieg (Artikel 22).
Eingenommen in die Feindschaft gegen Israel sind bei den meisten Islamisten heute alle Staaten, die Israel unterstützen, insbesondere die USA und das westliche Europa. Die Regierungen, aber auch große amerikanische Konzerne wie Coca Cola, McDonald’s und Facebook werden in islamistischen Propaganda-Schriften als „jüdisch“ bezeichnet und häufig in Form antisemitischer Karikaturen illustriert: mit Hakennase und Buckel, als weltumspannende Krake, geldgierig und intrigant. So sprach auch Osama Bin Laden in seinen Videobotschaften nach dem 11. September 2001 wiederholt davon, die reichen Juden in New York hätten sich gegen den Islam verschworen, die Attentate auf das World Trade Center und das Pentagon verstand er als „Selbstverteidigung“.

(Stand: 10. April 2014)


 

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