Die Schiiten sind im Libanon anteilsmäßig am meisten vertreten. Warum behaupten sie, eine Minderheit zu sein?

Die Schiiten machen weltweit 10 bis 12 Prozent aller Muslime aus. In der Geschichte wurden schiitische Minderheiten häufig unterdrückt; auch heute erfahren sie in einigen sunnitischen Staaten Diskriminierung.
Schon vor rund 1000 Jahren kamen Schiiten aus dem Irak und dem Iran als Flüchtlinge in den Libanon. Trotz ihrer zahlenmäßigen Stärke blieben sie hier politisch weitgehend machtlos und zählten zur wirtschaftlichen Unterschicht. Erst 1926 als der Libanon Republik wurde und eine gewisse Eigenständigkeit erhielt, wurden sie offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt und bekamen mehr Rechte zugesprochen.
Im Libanon gehören alle Menschen irgendeiner Minderheit an. Die Bevölkerung des Landes ist ausgesprochen vielfältig und die politische Situation hochexplosiv. 18 anerkannte Konfessionen leben heute im Libanon. Da die letzte Volkszählung viele Jahrzehnte zurückliegt und sich das Land durch unterschiedlich hohe Abwanderungs- und Geburtenraten sehr veränderte, lassen sich die Bevölkerungszahlen nur grob geschätzt angeben. Muslime und Christen sind die größten Religionen. Sie teilen sich in verschiedene Gruppen auf: Maronitische, orthodoxe, katholische, evangelische, koptische und andere Christen machen zwischen einem Drittel bis an die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. Die Zahl der Schiiten beläuft sich je nach Quelle auf ein Viertel bis ebenfalls an die 50 Prozent. Die Sunniten sind mit ca. einem Viertel vermutlich die drittgrößte Gruppe. Weiter gibt es kleinere Gruppen von alawitischen Muslimen, Drusen und Juden.
Die meisten Libanesen sind Araber, es gibt jedoch auch Kurden und Armenier. Seit Jahrzehnten leben zudem mehrere Hunderttausend Palästinenser im Land. In den vergangenen Jahren kamen weit mehr als eine Million Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien hinzu. Die Situation der Palästinenser, Iraker und Syrer ist extrem schlecht; viele leben in Lagern oder illegal im Land, die Kinder besuchen keine oder nur schlechte Schulen, die Erwachsenen erhalten selten libanesische Papiere und erst seit Kurzem die Möglichkeit einer Arbeitserlaubnis. Ohne Papiere haben sie auch meistens keine Möglichkeit, eine Kranken- oder Rentenversicherung abzuschließen.
Mit etwas mehr als 4 Millionen Einwohnern zählt der Libanon heute zu den kleinsten Ländern des Nahen Ostens – in den vergangenen Jahrzehnten sind so viele Libanesen ausgewandert, dass heute mehr Libanesen in der Diaspora leben als im Land selbst. Der Libanon ist mit seinen vielen verschiedenen Gruppen und der Lage im spannungsgeladenen Nahen Osten mit Syrien und Israel als Nachbarländern ein sehr instabiler Staat. Seit Jahrzehnten wird das Land immer wieder von Kriegen, Attentaten und Besatzungen erschüttert.
Im libanesischen Bürgerkrieg der 1970er und 1980er Jahre gewannen die Schiiten einen zunehmenden Einfluss. Auch wenn sie heute politische Ämter bekleiden – der Parlamentspräsident ist zum Beispiel stets ein schiitischer Muslim – und sozial aufgestiegen sind, scheint die lange Erfahrung der Benachteiligung dazu zu führen, dass sich einige Schiiten weiterhin als Minderheit wahrnehmen.
Ein wichtiger politischer Akteur ist die Hisbollah. Die in den 1970er Jahren entstandene schiitische „Partei Gottes“ wird von Israel und den USA als Terrororganisation bezeichnet. Sie stellt Abgeordnete im libanesischen Parlament, unterhält soziale Einrichtungen und verfügt über eigene Medienanstalten. Ein paramilitärischer Arm kämpft mit Unterstützung von Syrien und dem Iran gegen nichtschiitische und antisyrische Politiker im eigenen Land sowie gegen das Nachbarland Israel.
Die Hisbollah erfährt trotz ihres brutalen Vorgehens eine breite Unterstützung seitens der Schiiten. Sie wird als eine Partei angesehen, die für die „unterdrückten Muslime“ – gemeint sind damit vor allem die Schiiten und die Palästinenser – eintritt und die vermeintlichen „Unterdrücker“ – Israel und die USA – bekämpft. Das streckenweise Totalversagen des libanesischen Staates nutzt die Hisbollah für ihr eigenes soziales Engagement; unter den Armen der Ärmsten in den Lagern und den kaputten Vorstädten werden neue Sympathisanten angeworben.

(Stand: 31. Juli 2014)


 
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