Was ist der „Islamische Staat“?

Nach den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001 galt al-Qaida als die größte und gefährlichste islamistische Terrororganisation in der Welt. Seit einiger Zeit ist jedoch eine andere Gruppe präsenter in den Medien: der „Islamische Staat (im Irak und in Syrien)“ (arabisch: ad-Daula al-Islamiyya (fi l-Iraq wa-sch-Scham)).
Der „Islamische Staat“ geht auf den Jordanier Abu Musab az-Zarqawi (1966-2006) zurück. Er führte den bewaffneten terroristischen Kampf gegen die US-Armee im Irak an, nachdem diese 2003 den irakischen Präsidenten Saddam Hussein (1937-2006) gestürzt hatte. az-Zarqawis erste Gruppe „Tawhid wa Dschihad“ (arabisch: Einheit und Heiliger Krieg) schloss sich ein Jahr später al-Qaida an, allerdings vor allem aus strategischen Gründen. Tatsächlich war „al-Qaida im Irak“ noch viel radikaler und brutaler als die Organisation Osama Bin Ladens (1957/58-2011) und seines Nachfolgers Aiman az-Zawahiri. Sie verübte zahlreiche Bombenanschläge mit vielen Toten. Zum Ziel wurden all jene, die nicht zu az-Zarqawis Anhängern gehörten, vor allem nicht-sunnitische oder gemäßigte Muslime und Andersgläubige, demokratische Politiker und westliche Ausländer. „al-Qaida im Irak“ heizte den Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten an, während die al-Qaida-Zentrale ihren Feind vor allem in der Gestalt „des Westens“ sah. So kam es sehr bald zu einem Streit und nach az-Zarqawis Tod bei einer Militäroperation der US-Armee im Juni 2006 im Oktober desselben Jahres zu einer Trennung: Aus „al-Qaida im Irak“ wurde der „Islamische Staat im Irak“ (ISI).
Als Anfang 2011 der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach, überschritten im Auftrag des neuen Anführers des „Islamischen Staates im Irak“, Abu Bakr al-Baghdadi, Kämpfer die Grenze. Als „Hilfsfront für die Menschen Syriens“ (arabisch: Dschabhat an-Nusra li-Ahl asch-Scham), kurz: „Nusra-Front“, wurden sie zu einer der stärksten Kräfte im Krieg gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Der Kommandeur Abu Muhammad al-Dschaulani änderte jedoch die Strategie und begann, sich vom „Islamischen Staat im Irak“ zu lösen und stattdessen die Nähe zu al-Qaida zu suchen. Am 8. April 2013 verkündete Abu Bakr al-Baghdadi, dass der „Islamische Staat im Irak“ und die „Nusra-Front“ in der neuen gemeinsamen Bezeichnung „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) aufgehen. Die „Nusra-Front“ sah sich jedoch nicht als Teil dieser Allianz und verweigerte Abu Bakr al-Baghdadi die Gefolgschaft. Stattdessen wandte sich al-Dschaulani an al-Qaida-Chef Aiman az-Zawahiri, der schließlich im Januar 2014 den „Islamischen Staat im Irak und in Syrien“ aus der al-Qaida ausschloss. Von nun an betrachteten die ISIS-Kämpfer die Aufständischen der weiterhin zu al-Qaida gehörenden „Nusra-Front“ als Feinde und attackierten sie ebenso hart wie alle anderen Beteiligten am syrischen Bürgerkrieg, also die Soldaten Baschar al-Assads, die Kämpfer der oppositionellen „Freien Syrischen Armee“ und die kurdischen Einheiten. Ende 2013 begannen die Kämpfer des „Islamischen Staates im Irak und in Syrien“ innerhalb kurzer Zeit, weite Regionen im Irak und in Syrien zu erobern. Ihr Territorium erstreckte sich bald auf ca. 600 Kilometer, es grenzt im Norden an die Türkei und reicht im Süden fast an Bagdad heran. In den eroberten Gebieten wird eine schwarze Flagge gehisst, auf der in weißer Schrift das arabische Glaubensbekenntnis steht. Hier führt die Organisation eine Ordnung ein, die sie als in Übereinstimmung mit der Scharia (arabisch: islamisches Recht) versteht: Frauen müssen sich verschleiern, Alkohol und Drogen sind verboten, Körperstrafen werden öffentlich verhängt. Wer kein Muslim ist oder sich gegen den „Islamischen Staat“ auflehnt, wird als Kafir (arabisch: Ungläubiger) bezeichnet und getötet.
Am 29. Juni 2014 ernannte sich Abu Bakr al-Baghdadi per Twitter (!) zum Kalifen. Außerdem strich er „im Irak und in Syrien“ aus dem Titel seiner Organisation. Mit dem Verzicht auf die beiden Ländernamen möchte der Anführer des „Islamischen Staates“ ausdrücken, dass er vorhat, in den gesamten Nahen Osten oder sogar darüber hinaus zu expandieren. Die kurz zuvor eroberte nordirakische Stadt Mossul erklärte al-Baghdadi zur Hauptstadt des „Islamischen Staates“. Mit dem Kalifentitel beansprucht er die Nachfolge des Propheten Muhammad und die politische und religiöse Führung aller Muslime in der Welt – eine ungeheure Machtdemonstration, die so seit dem Niedergang des Kalifats vor 90 Jahren niemand mehr gewagt hat.
Der „Islamische Staat“ ist eine fundamentalistische sunnitische Gruppierung. Ihr Feind sind nicht nur Andersgläubige und „der Westen“, sondern auch viele Muslime. Besonders im Fokus des „Islamischen Staates“ sind die Kurden, auch wenn viele von ihnen von ihrer ursprünglichen Religion, dem Jesidentum, zum Islam konvertiert sind. Weiter zeichnet den „Islamischen Staat“ ein besonderer Hass gegen Schiiten aus, auch gegen Christen und Juden Ganze Dörfer und Städte fliehen vor den heranrückenden Kämpfern aus Angst um ihr Leben. An zahlreichen Orten kommt es zu Massakern, Folterungen und Vergewaltigungen an der Zivilbevölkerung. Weiter werden kurdische und schiitische Gegner, sunnitische Oppositionelle sowie Ausländer entführt und vor laufender Kamera brutal hingerichtet. So werden Angst und Schrecken verbreitet und Lösegelder erpresst, neben den Spenden aus Ländern wie Katar und anfangs auch Saudi-Arabien und den Einnahmen aus den eroberten Ölraffinerien und Fabriken sowie dem Verkauf von geraubten Kunstschätzen eine wichtige Einnahmequelle des „Islamischen Staates“.
Für große Aufmerksamkeit und Entsetzen in der westlichen Presse sorgen auch die Zerstörungen von Heiligtümern und Kulturgütern anderer Religionen. Im Februar 2015 randalierten Kämpfer des „Islamischen Staates“ beispielsweise in der Bibliothek und im Museum von Mossul. Sie zerstörten dabei vermutlich Hunderttausend Bücher und Dutzende über 2000 Jahre alte assyrische Statuen. Auch archäologische Stätten aus biblischen Zeiten machen sie mit Planierraupen dem Erdboden gleich. Für die Kämpfer des „Islamischen Staates“ haben vorislamische und andersgläubige Kulturen keine Existenzberechtigung.
Der UN-Weltsicherheitsrat, die Regierungen westlicher Staaten wie auch hochrangige Islamgelehrte und arabische Organisationen haben das Vorgehen des „Islamischen Staates“ deutlich verurteilt. Schiitische Geistliche wie auch politische Führer der Kurden riefen zum Widerstand gegen die Kämpfer auf. So sind es vor allem kurdische und schiitische Bürgerwehren, die in Zusammenarbeit mit einer internationalen Allianz den Kämpfern des „Islamischen Staates“ die Stirn bieten und in blutigen Schlachten Dörfer, Fabriken, Brücken und religiöse Stätten verteidigen.
Trotz der massiven Gegenwehr und der zahlenmäßigen Unterlegenheit an Kämpfern und militärischer Ausrüstung ist der „Islamische Staat“ auf dem Vormarsch. Das Chaos und das staatliche Machtvakuum in den von Bürgerkriegen gezeichneten Staaten wie Irak und Syrien machen das Erstarken des „Islamischen Staates“ möglich. In Syrien herrscht heute ein völlig außer Kontrolle geratener Bürgerkrieg, staatliche Strukturen bestehen hier kaum noch und die Armee von Baschar al-Assad kennt gleich mehrere Gegner, zudem wird das Land von US-Fliegern bombardiert.
Die westliche Welt zeigte sich von der schnellen Eroberung Teilen des Iraks und Syriens durch den „Islamischen Staat“ ziemlich überrascht – und reagierte militärisch. Seit Juni 2014 fliegen US-amerikanische Flieger Angriffe auf Stellungen des „Islamischen Staates“ im Irak, seit September 2014 auch in Syrien. In diesem Monat verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig die Resolution 2178 für den weltweiten Kampf gegen den „Islamischen Staat“. Auch diverse arabische und westliche Staaten beteiligen sich jetzt daran, indem sie u.a. Luftangriffe fliegen, Waffen an die Kurden und die irakische Armee liefern und Bankkonten sperren.
Der „Islamische Staat“ ist längst zu einem gefährlichen Konkurrenten für al-Qaida geworden, vermutlich hat er die einstige Nummer eins der Terrororganisationen bereits überrundet. Viele Kämpfer der al-Qaida, u.a. von der „Nusra-Front“, schließen sich Abu Bakr al-Baghdadi an. Seine militärischen Erfolge und sein übersteigerter Hass gegenüber allen Andersdenkenden sind offenbar von großer Attraktivität.
Der „Islamische Staat“ ist eine internationale Organisation, Musliminnen und Muslime aus aller Welt beteiligen sich an dem als Dschihad (arabisch: Anstrengung, sinnbildlich: Heiliger Krieg) bezeichneten Kampf. Es ist unbekannt, wie viele Kämpfer der „Islamische Staat“ im Irak und in Syrien zählt. Schätzungen verschiedener Geheimdienste und Nahostexperten schwanken zwischen einigen Tausend bis über 50.000 Personen. Ein nicht unerheblicher Teil stammt aus nichtarabischen Ländern. Der Verfassungsschutz schätzte im April 2015, dass fast 700 zumeist junge Männer und Frauen aus Deutschland nach Syrien gereist sind, um dort für den „Islamischen Staat“ zu kämpfen. Eine unbekannte Zahl von ihnen ist bereits gestorben.
Am 12. September 2014 wurde der „Islamische Staat“ in Deutschland verboten. Gegen diejenigen, die aus Syrien nach Deutschland zurückkommen, werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Parallel dazu wurde ein Resozialisierungsprogramm aufgebaut, das das Ziel hat, die ehemaligen IS-Kämpfer in die Gesellschaft zurückzuführen. Weiter gibt es Beratungsstellen und pädagogische Maßnahmen, um den Einfluss des „Islamischen Staates“ auf junge Menschen in Deutschland zu verringern.
Die Gründe für den starken Zulauf zum „Islamischen Staat“ sind sehr vielseitig. Viele Muslime im Nahen Osten und Afrika fühlen sich seit langer Zeit von einstigen Kolonialherrschern wie Frankreich und Großbritannien und heute vor allem von den USA ausgebeutet und unterdrückt. Einige sehen im Islam die Lösung für ihre Probleme, immer mehr meinen, einen islamischen Staat mit Gewalt erkämpfen zu müssen. So heißt es dann auch in den Propagandaschriften des „Islamischen Staates“, die Sunniten bräuchten endlich wieder ihr eigenes Land, ohne Fremde und mit einem Muslim als Herrscher.
Auch (nicht)muslimische Jugendliche und junge Erwachsene in westlichen Ländern sind von diesem Kampf, in dem sich die vermeintlichen muslimischen Opfer gegen den Rest der Welt zur Wehr setzen, fasziniert. Mit Religion hat dies häufig gar nichts zu tun, manche IS-Kämpfer sind erst vor Kurzem zum Islam konvertiert, die meisten haben keine besondere religiöse Bildung und sind auch nicht übermäßig gläubig. Es geht eher um eine Provokation der Durchschnittsgesellschaft, von der sie sich ausgeschlossen fühlen, um die Suche nach einem Abenteuer in fernen Ländern und um die Lust an Gewalt und Töten. Der Weg zum „Islamischen Staat“ scheint bei den deutschen Kämpfern und Sympathisanten relativ ähnlich zu sein: Die jungen Leute werden auf der Straße oder im Bekanntenkreis durch Salafisten – Muslime, die sich nach der vermeintlichen Lebensart der frühen Gefährten des Propheten (arabisch: as-Salaf as-Salih) ausrichten – angeworben und durch Prediger in Moscheen und im Internet radikalisiert. Das Weltbild, das allmählich entsteht, ist ganz einfach: Wir, die Guten, haben Gott an unserer Seite und bekämpfen die Bösen.

(Stand: 9. Juni 2015)


 
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