Warum beginnt die Zeitrechnung mit der Geburt von Jesus?

In den Ländern, in denen mehrheitlich Musliminnen und Muslime leben, sind unterschiedliche Zeitrechnungen in Gebrauch. In den meisten arabischen und südostasiatischen Ländern gilt aber wie auch in Europa der sogenannte gregorianische Kalender, der mit dem vermuteten Geburtsjahr von Jesus von Nazareth (auch: Jesus Christus) beginnt. Alle Folgejahre werden daher mit der Bezeichnung „n. Chr.“ (nach Christus) versehen. Aktuell befinden wir uns im Jahr 2017 n. Chr.

Es gibt aber auch einen islamischen Kalender. Dieser zählt die Jahre ausgehend von der sogenannten „Hidschra“, dem Auszug des islamischen Propheten Muhammad aus Mekka und seiner Flucht nach Medina. Der islamischen Überlieferung nach fand dieses Ereignis im Jahr 622 n. Chr. statt. Der islamische Kalender beginnt also 622 Jahre später als der gregorianische.

Um auf das aktuelle Jahr nach der islamischen Zeitrechnung zu kommen, können wir aber nicht einfach 2017 minus 622 rechnen. Denn während sich der gregorianische Kalender nach der Sonne richtet, orientiert sich der islamische Kalender am Lauf des Mondes. Ein Jahr ist somit etwa elf Tage kürzer als nach gregorianischer Rechnung. 2017 entspricht den Jahren 1438/39.

Der islamische Kalender war bis vor kurzem noch in Saudi-Arabien weit verbreitet. Zwar richteten sich viele private Unternehmen in dem Land bereits nach dem gregorianischen Kalender, der öffentliche Sektor aber – zum Beispiel die Schulen – hielt am islamischen Kalender fest. Dies wurde im Oktober vergangenen Jahres jedoch abgeschafft, aus dem Jahr 1438 wurde auch im staatlichen Bereich das Jahr 2016.

Obwohl sich der gregorianische Kalender auf der ganzen Welt weitgehend durchgesetzt hat, werden andere Zeitrechnungen wie die islamische nicht verschwinden. Der islamische Kalender hat vor allem für religiöse Feste eine wichtige Bedeutung. Zum Beispiel ist der neunte Monat des Kalenders – der Ramadan – der Fastenmonat. Am Ende des Monats Ramadan findet das Eid al-Fitr statt. Sowohl die Fastenzeit als auch die verschiedenen islamischen Feiertage finden nach islamischem Kalender immer zur gleichen Zeit statt, nicht aber nach gregorianischem. Wer sich am gregorianischen Kalender orientiert, stellt fest, dass die islamischen Feste durch das Jahr wandern. Der Ramadan beginnt jedes Jahr zum Beispiel etwa elf Tage früher als im Vorjahr.

Weitere Kalender sind in den Ländern, in denen mehrheitlich Muslime leben, in Gebrauch. Im Iran und in Afghanistan wird ein Kalender verwendet, der die Sonnenjahre zählt, sich aber dennoch nach der Hidschra richtet. Demnach schreiben wir das Jahr 1396. Kurden kennen einen Kalender, der politische Ereignisse um ca. 700 v. Chr. zum Ausgangspunkt nimmt. Demnach schreiben wir das Jahr 2629. In Israel wird der jüdische Kalender verwendet, der die Jahre nach der biblischen Schöpfung der Welt zählt. Er ist schon im Jahr 5777 angekommen.

Der Gebrauch unterschiedlicher Kalender ist in der heutigen globalisierten Welt unpraktisch. Stell dir vor, eine US-amerikanische Airline möchte einen Flughafen in Saudi-Arabien und anschließend im Iran anfliegen und dabei kurdische Fluggäste transportieren. Das Datum müsste ständig umgerechnet werden. Diese Schwierigkeiten haben die Verbreitung des gregorianischen Kalenders begünstigt, was sich ja zuletzt auch am Beispiel Saudi-Arabiens gezeigt hat.

Doch nicht alles hat damit zu tun, ob es praktisch ist oder nicht. Der Gebrauch bestimmter Kalender ist auch politisch bedeutsam. In Saudi-Arabien zum Beispiel wurde die Umstellung auf den gregorianischen Kalender von einigen stark kritisiert. Die Kritiker hätten sich lieber weiter an der islamischen Hidschra orientiert als an der Geburt von Jesus (obwohl auch Jesus ein wichtiger Prophet im Islam ist). Für sie stellte die Umstellung eine Übernahme westlicher Standards und eine Entfernung vom Islam dar. Auch der Gebrauch des kurdischen Kalenders sendet eine politische Botschaft: Er zählt die Jahre ausgehend von historischen Ereignissen, denen viele Kurden eine besondere Bedeutung für die heutige Einheit der Kurden beimessen.

Letztlich ist natürlich auch die weltweite Verbreitung des gregorianischen Kalenders nicht frei von Politik. Sie ist unter anderem auf den europäischen Kolonialismus und die Unterwerfung großer Teile der Welt durch europäische Kolonialherren zurückzuführen. Die Europäer haben ihre Zeitrechnung mitgebracht und somit die Verbreitung des gregorianischen Kalenders begünstigt.

(Stand: 21. Juli 2017 oder 27. Shawwal 1438)


 

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