Sind die Naturwissenschaften mit dem Islam vereinbar?

Mathematik, Physik, Chemie, Medizin, Astronomie… Diese Wissenschaften blühten in der islamisch geprägten Welt vor rund tausend Jahren, als sich Europa im Mittelalter befand. Arabische und persische Herrscher förderten die Naturwissenschaften mit viel Geld und maßen ihren eigenen Ruhm an den Erkenntnissen der Forscher. Während muslimische Gelehrte von der Neugier immer weiter angetrieben wurden, verbot die christliche Kirche die allzu genaue Untersuchung von Mensch und Natur und verfolgte sogar diejenigen, die Wahrheiten verkündeten, die sich nicht mit dem geschriebenen Wort in der Bibel in Einklang bringen ließen. Viele bedeutende Schriften gelangten erst spät aus dem Orient zu uns und halfen, die Welt zu verstehen und dem Menschen das Leben leichter zu machen.
Heute ist die Situation eine andere. Teils erinnern nur noch die aus dem Arabischen entlehnten Begriffe wie Alchemie und Algebra oder berühmte Namen wie der des persischen Arztes Ibn Sina/Avicenna (um 980-1037, bekannt aus Noah Gordons Bestseller „Der Medicus“) an das einstige Zentrum der Naturwissenschaften. Dies liegt vor allem an den vielen Krisen in Gesellschaft und Politik im Nahen Osten und weniger an dem oft im Westen formulierten Vorurteil, für Muslime passten Religion und Naturwissenschaft nicht zusammen. Im Gegenteil: Die meisten muslimischen Gelehrten befürworten naturwissenschaftliche Forschung, solange sie dem Menschen nützt und ihm nicht schadet.
Länder im Nahen und Mittleren Osten geben heute nur sehr wenig Geld für die Wissenschaft aus. Die berühmtesten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen und lehren daher häufig im Westen. Männer wie Frauen drängen jedoch auch in der islamischen Welt an die Universitäten, an denen Naturwissenschaften ganz selbstverständlich ihren Platz haben. Im Iran (78,9 Millionen Einwohner) beispielsweise studieren an staatlichen und privaten Hochschulen 3,8 Millionen Menschen, in Deutschland (81,2 Millionen Einwohner) sind es 2,7 Millionen, davon rund 300.000 Ausländer. In den Wissenschafts- und Ingenieursstudiengängen gibt es im Iran einen Frauenanteil von 70 Prozent. In Deutschland studieren insgesamt etwas mehr Männer als Frauen, in den naturwissenschaftlichen Fächern ist das Geschlechterverhältnis zuungunsten der Frauen noch schlechter.
Gerade im Bereich der Medizin und Biologie steuern iranische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wichtige Ergebnisse zur internationalen Forschung bei: So entwickelte der Iran als erstes Land des Nahen und Mittleren Ostens eine menschliche embryonale Stammzelllinie aus restlichen Embryonen künstlicher Befruchtung – in Deutschland ist nach dem Embryonenschutzgesetz von 1991 jede Art von medizinischer Forschung an Embryonen verboten. Auch im Bereich Gentechnologie ist der Iran eines der führenden Länder. In vielen christlich geprägten Ländern ist man hier aus ethisch-theologischen Gründen ebenfalls sehr viel zurückhaltender. Doch auch in anderen islamischen Ländern werden solche bioethischen Fragen unterschiedlich geregelt: In Saudi-Arabien ist die Herstellung gentechnisch veränderter Pflanzen unproblematisch, Pränataldiagnostik menschlicher Embryonen hingegen verboten. Pakistan ist das einzige islamische Land, in dem die Organspende untersagt ist.
Die Entstehung der Welt und die Evolution des Menschen sind häufig bei fundamentalistisch denkenden religiösen Menschen Reizthemen. Anhänger solcher Strömungen finden sich sowohl im Christentum als auch im Islam. Beide Religionen gehen von einem göttlichen Schöpfer aus, was in Widerspruch zu der Urknall-Theorie und den Lehren des britischen Evolutionstheoretikers Charles Darwin (1809-1882) steht. An ägyptischen Schulen wird Evolution gelehrt, im Sudan und in Saudi-Arabien ist sie verboten. Nach christlichem Vorbild wurde in den letzten Jahrzehnten ein islamischer Kreationismus (von lateinisch Creatio für „Schöpfung“) entwickelt. Akteure wie beispielsweise der aus der Türkei stammende Adnan Oktar, auch bekannt unter dem Pseudonym Harun Yahya, halten sich wortwörtlich an die aus der Bibel stammende Lehre zur Entstehung der Welt als Tat eines Schöpfergottes. Für sie gilt alles Wissen als schon im Koran angelegt. Die Wissenschaft soll letztlich den Koran bestätigen, widerspricht sie den heiligen Texten, liegt sie falsch.

(Stand: 13. November 2015)


 
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