Wer ist Fethullah Gülen?

Fethullah Gülen ist ein islamischer Gelehrter und Prediger, der weltweit insbesondere unter türkischstämmigen Muslimen ein hohes Ansehen genießt. Verschiedene Stimmen bezeichnen ihn als einen der einflussreichsten Denker des modernen Islams, andere sehen in ihm und seiner Bewegung eine islamistische Bedrohung.
Fethullah Gülen wurde 1941 in Erzurum/Türkei geboren. Bereits als Kind studierte er intensiv den Islam. Besonders prägend für ihn war der religiöse Führer Said Nursi (ca. 1876-1960), der den Islam wiederzubeleben und mit der modernen Welt zu versöhnen versuchte. Die von ihm inspirierte Nurculuk-Bewegung strebte einen großen islamischen Staat mit der Scharia als alleinige Rechtsquelle an.
In den späten 1960er Jahren bewirkte Fethullah Gülen in Izmir, wo er als Imam tätig war, die Gründung seiner eigenen Bewegung. Der charismatische Prediger, der seine Zuhörer zu Tränen rühren und zu Jubelschreien bringen kann, hielt im ganzen Land Vorträge und verbreitete seine Ideen mit Hilfe von Audio- und Videokassetten. Heute ist die Gülen-Bewegung mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern die größte islamische Gruppierung in der Türkei.
Fethullah Gülen lebt derzeit in Pennsylvania/USA; hierhin war er 1999 kurz vor einer drohenden Verhaftung wegen Republikverrats geflohen. Nach Bekanntwerden einer Videoansprache wurde ihm vorgeworfen, die Türkei zu unterwandern und die Trennung von Religion und Politik abschaffen zu wollen.
Bis heute schrieb Gülen über 60 Bücher und unzählige Essays und Gedichte zu religiösen, sozialen und politischen Themen. Viele seiner Texte sind auch auf Deutsch zugänglich, u.a. über diverse Internetseiten. Gülen interpretiert Koran und Sunna im Lichte der modernen Wissenschaften. Seine wichtigsten Themen sind neben religiöser Praxis vor allem Bildung, Ökonomie, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Bekannt ist Fethullah Gülen in der türkischen Öffentlichkeit wie im Ausland für seine Aktivitäten im interreligiösen Bereich, seine öffentliche Verurteilung von Gewalt im Namen des Islams und vor allem sein Engagement für Bildung.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs sind Fethullah Gülen und seine Anhänger auch außerhalb der Türkei aktiv. Zunächst vor allem in der ehemaligen Sowjetunion, später dann auch in afrikanischen Ländern, den USA und Deutschland gründeten sie eine Vielzahl von Privatschulen und Studentenheimen. Nach Gülens Selbstaussage gibt es heute in 140 Ländern mehr als 1000 Schulen. In Deutschland sollen etwa 25 Schulen und 200 bis 300 Nachhilfezentren bestehen.
Im Westen wird Fethullah Gülen seit langer Zeit als liberaler und demokratischer Denker mit einem besonderen Interesse für den interreligiösen Dialog viel Anerkennung entgegengebracht. Unter anderem wird seine Haltung zu Frauen als modern und fortschrittlich gelobt. Sehr bedeutend für sein internationales Renommee war der offizielle Empfang Gülens 1998 durch Papst Johannes Paul II. in Rom.
In den vergangenen Jahren jedoch sind auch kritische Stimmen zu Gülens Person und seiner Bewegung zu hören. In der Türkei wirft man ihm eine Unterwanderung des Staates vor. Der Journalist Ahmet Şık verfasste mehrere kritische Artikel zu seinem Einfluss auf die türkische Politik und wurde wiederholt verhaftet und angeklagt. Zuletzt warf man ihm die Mitgliedschaft in der nationalistischen Untergrundorganisation „Ergenekon“ vor, die einen Staatsstreich plane. Vieles deutet daraufhin, dass Ahmet Şık aufgrund seiner Recherchen zur Gülen-Bewegung mundtot gemacht werden sollte. Sein Buch „Imamın Ordusu“ (türkisch: Die Armee des Imam), in dem er die systematische Unterwanderung der Polizei und der Justiz durch die Gülen-Anhänger anprangert, wurde sofort verboten. Tatsächlich stehen in der Türkei ganze Universitäten, Radio- und Fernsehsender, Banken, Firmen, Arbeiterverbände und soziale Einrichtungen unter Gülens Einfluss. Ihm nahestehende Unternehmen erhalten bei der öffentlichen Vergabe von großen Projekten wie beispielsweise dem Bau der Istanbuler U-Bahn den Zuschlag. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ist seit langer Zeit ein großer Verehrer Fethullah Gülens. Nach dem Wahlsieg seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 hoben alle Gerichte des Landes die Haftbefehle gegen Gülen auf und sprachen ihn von jeglichem Verdacht eines Umsturzes frei.
Nach der WDR-Fernsehdokumentation „Der lange Arm des Imam – Das Netzwerk des Fethullah Gülen“ von 2013 wächst die Zahl der Kritiker auch in Deutschland. Die Soziologin und Journalistin Necla Kelek bezeichnete Fethullah Gülen bereits vor einigen Jahren als „Führer einer Sekte mit Konzernstruktur", der weltweit ein reaktionäres und chauvinistisches Islamverständnis durchzusetzen versuche. Für Irritation sorgen in der Tat Textstellen, in denen Gülen die Todesstrafe für vom Islam Abgefallene fordert. In der WDR-Dokumentation berichten ehemalige Gülen-Anhänger von sektenähnlichen Strukturen; in den sogenannten Lichthäusern (studentische Wohngemeinschaften) seien sie einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen und auf Schritt und Tritt überwacht worden. Der deutsche Verfassungsschutz hingegen betrachtet die Gülen-Bewegung als nichtverfassungswidrig und lässt sie daher auch nicht beobachten.
Fethullah Gülen dürfte in die Türkei zurückkehren. Er bleibt jedoch in den USA, angeblich sehr bescheiden und abgeschiedenen lebend, tagtäglich mit Gebet und Schreiben beschäftigt. Diese Distanz hat seiner Popularität keinen Abbruch getan – im Gegenteil. Für seine Anhänger wird er so zu einem verklärten Retter, der über Fernsehen, Radio, Zeitungen und Internet nahezu täglich zu ihnen spricht. Von dem Vorwurf, er halte im Hintergrund die Zügel eines weltumspannenden Netzwerkes in der Hand, das zuerst die Türkei und anschließend weitere Länder zu islamisieren versuche, sagte Gülen in einem Interview: „Im Staat, bei der Polizei und in den Sicherheitsapparaten kann es Menschen geben, die mich mögen, aber ich organisiere sie ja nicht. ich lebe doch in Pennsylvania. Möglich, dass mich manch einer sympathisch findet. Soll ich eine Anzeige in der Zeitung aufgeben: Ab heute findet mich bitte nicht mehr sympathisch?“

(Stand: 29. Oktober 2013)


 
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