Was ist eine Rechtsschule?

Der „gelehrte“ Islam hat seinen Ursprung in Mekka und Medina im heutigen Saudi-Arabien, in Kufa und Basra im heutigen Irak sowie in Damaskus im heutigen Syrien. Hier bildeten sich in den ersten 200 Jahren nach Muhammads Tod private Zirkel und später Schulen (arabisch: madrasa), wo Lehrer mit ihren Schülern den Koran interpretierten, die Überlieferungen des Propheten zusammentrugen und später vor allem das islamische Recht ausarbeiteten.
Allen Gelehrten war eines gemein: Sie wollten herausfinden, wie ein gläubiger Muslim nach dem göttlichen Willen am besten lebt. Die Methode, einzelne Glaubens- und Rechtsfragen zu erörtern, nennt man Idschtihad (arabisch: Anstrengung), d.h. der Gelehrte konsultiert die islamischen Quellen Koran und Sunna (Tradition des Propheten) und informiert sich über die Meinung seiner Kollegen, um dann zu einer eigenen Rechtsempfehlung (arabisch: fatwa) zu kommen.
Viele dieser in der islamischen Geschichte entwickelten Lehrrichtungen (arabisch: madhhab, Pl. madhahib) sind heute gar nicht mehr bekannt oder wurden durch andere verdrängt. Der sunnitische Islam kennt heute vier sogenannte Rechtsschulen. Nach ihren Gründern heißen sie
  • Hanafiyya (Abu Hanifa, 699-767, Kufa und Bagdad)
  • Malikiyya (Malik ibn Anas, ca. 715-796, Medina)
  • Schafi‘iyya (Muhammad ibn Idris asch-Schafi‘i, 767-820, Mekka, Medina, Bagdad und Kairo)
  • Hanbaliyya (Ahmad ibn Hanbal, 780-855, Basra und Bagdad)
Bei den Schiiten ist vor allem die Dscha‘fariyya (Dscha‘far as-Sadiq, ca. 700-765, Medina) von Bedeutung, doch auch die Zaidiyya (Zaid ibn ‘Ali, gest. 740, Medina und Kufa) gilt als rechtmäßig. Daneben gibt es noch die Ibadiyya (‘Abd Allah ibn Ibad, 7./8. Jh. und Dschabir ibn Zaid, ca. 640-ca. 720, Oman und Basra) und die Zahiriyya (Da’ud ibn Khalaf, ca. 815-883, Irak), die weder sunnitisch noch schiitisch sind.
Die Vertreter der Rechtsschulen waren in der Geschichte teils erheblich unterschiedlicher Meinungen bei einzelnen Rechtsangelegenheiten, doch galten Kontroversen als Herausforderung und Grund für eine engagierte und sich fortentwickelnde Theologie und Rechtspraxis. Die hinter den Rechtsschulen stehenden politischen Herrscher in den einzelnen islamischen Hoheitsgebieten hingegen waren sich oft spinnefeind und bekämpften sich. Vom 12. bis noch ins 20. Jahrhundert hinein hatten ihre Untertanen sogar getrennte Gebetsplätze an der Kaaba, dem heiligsten Ort der Muslime in Mekka.
In jüngerer Zeit kam Kritik an der Existenz verschiedener Rechtsschulen im Islam auf. Zum Beispiel die Salafisten (arabisch: as-salaf as-salih, „die rechtschaffenden Altvorderen“), die zu dem einst in Mekka und Medina praktizierten Islam zurückkehren möchten, betonen, dass zu Zeiten Muhammads die muslimische Gemeinde vereint und nicht wie heute gespalten gewesen sei. Die Vorstellung eines „wahren Islams“, in dem es nur eine Lehrmeinung gibt, ist jedoch nicht nur romantisch und unhistorisch, sondern vor allem intolerant. Die führenden islamischen Institutionen wie die Azhar-Universität in Kairo und die Internationale Islamische Fiqh-Akademie in Dschidda sowie angesehene muslimische Autoritäten wie Yusuf al-Qaradawi, Katar und Großajatollah Ali al-Sistani, Iran haben daher erst vor wenigen Jahren offiziell beschlossen, die genannten acht Rechtsschulen anzuerkennen und die bei vielen Themen unterschiedlichen Meinungen auszuhalten.
Die Gläubigen können sich selbstständig einer Rechtsschule anschließen oder aber auch verschiedenen Gelehrten ohne besondere Ausrichtung folgen. Häufig orientiert man sich jedoch an der Rechtsschule, die im eigenen Land traditionell beheimatet ist. In Süd- und Zentralasien sowie in der Türkei herrscht beispielsweise die hanafitische Lehrmeinung vor, in Nord- und Westafrika die malikitische, in Ägypten, Syrien, Jemen, Südostasien und an den Küsten des Indischen Ozeans die schafiitische und in Saudi-Arabien die hanbalitische. Schiiten folgen bis auf eine kleine Gruppe im nördlichen Jemen ausschließlich der dschafaritischen Tradition. Die Ibadiyya gibt es heute nur noch in Oman; die Zahiriyya ist im Grunde nur noch in alten Lehrtexten existent.

(Stand: 18. Januar 2014)


 
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