Welche Rolle spielt Sexualität im Islam?

Sowohl das Judentum als auch das Christentum und der Islam beanspruchen, alle Lebensbereiche der Gläubigen zu regeln, auch und gerade die Sexualität. In Koran und Sunna (Tradition des Propheten) finden sich jedoch nicht zu allen Fragen eindeutige Antworten, diese versuchen dann muslimische Religions- und Rechtsgelehrte zu geben. Dabei können sie zu vollkommen unterschiedlichen Auffassungen kommen. Welcher Empfehlung eine Muslima/ein Muslim schließlich folgt, ist ihr/ihm frei überlassen. Die meisten Muslime leben jedoch vermutlich ihre Sexualität mehr oder weniger selbstbestimmt und unabhängig der Vorstellungen von religiösen Spezialisten.
In einem entscheidenden Punkt sind sich alle muslimischen Gelehrten einig: Sexualität ist nur innerhalb der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau erlaubt; die Hochzeitsnacht sollte folglich der Zeitpunkt sein, zu dem ein Mensch zum ersten Mal Geschlechtsverkehr hat. Das islamische Recht hat jedoch einige Kniffe eingeführt, mit Hilfe derer vor allem der Mann in den Genuss von Sexualität mit unterschiedlichen Partnerinnen kommt. So kann der Mann mit bis zu vier Frauen gleichzeitig verheiratet sein; allerdings ist die Polygamie (Vielehe) in den meisten Ländern verboten und die Ernährung einer großen Familie schlichtweg zu teuer. Entstanden aus dem schiitischen Islam, heute jedoch auch in einigen sunnitischen Ländern wie Saudi-Arabien und Ägypten verbreitet, ist die Zeitehe (arabisch: mut‘a). Sie wird für eine begrenzte Zeitdauer von Paaren, die nicht „richtig“ heiraten möchten, eingegangen. Die Mut‘a kann jedoch auch nur einige Stunden dauern und damit den Besuch des Mannes bei einer Prostituierten legitimieren.
Im Westen gilt die islamische Welt heute in Bezug auf Sexualität als „verklemmt“. Insbesondere die Vorstellung von der Frau als im Haus gehaltenes und verschleiertes Eigentum des Mannes ruft europäische und amerikanische Feministinnen auf den Plan, um die muslimische Frau aus der Unterdrückung zu befreien und in ein – auch sexuell – selbstbestimmtes Leben zu führen. Die eigene „westliche“ Lebensweise als die bessere zu bezeichnen und aus der Rolle der Frau in einer islamisch geprägten Gesellschaft pauschal Rückschlüsse auf das Sexual- und Liebesleben muslimischer Paare zu ziehen, ist jedoch schwierig. Auch wenn das bis in das 19. Jahrhundert gezeichnete Bild des „Orients“ als Ort der Erotik und Freizügigkeit sicherlich überzogen ist, so dulden viele muslimische Rechtsgelehrte einen deutlich freieren Umgang mit Sexualität als beispielsweise die katholische Kirche – wenn sie denn im Rahmen der Ehe praktiziert wird.
So betrachten viele Islamgelehrte Sexualität nicht nur als reines Mittel zur Fortpflanzung, sondern betonen auch den Spaß an körperlicher Intimität. Die sexuelle Lust sollte von Männern und Frauen ausgelebt werden. Das Zölibat wie bei katholischen Priestern ist daher im Islam unbekannt. Die sexuelle Befriedigung interpretieren die Gelehrten als Vorgeschmack auf die Freuden des Paradieses. Frigidität bzw. Impotenz gelten somit als triftige Scheidungsgründe für Mann und Frau. Anders als die katholische Kirche befürworten die meisten Gelehrten Verhütungsmittel wie Kondome oder die Pille, wenn ein junges Paar mit dem Nachwuchs noch warten möchte oder keine Kinder mehr wünscht. Eine dauerhafte Empfängnisverhütung durch Sterilisation oder Kastration wird jedoch nur selten akzeptiert. Eine Abtreibung ist erlaubt, wenn beispielsweise die Gesundheit der Frau in Gefahr ist.
Diesen vergleichsweise liberalen Positionen stehen konservative Stimmen entgegen, die beispielsweise empfehlen, sich nicht vollkommen im Bett zu entkleiden und die Körperlichkeit auf den reinen Sexualakt zu beschränken. Da das islamische Recht vor allem von Männern gemacht wird, nimmt die männliche Befriedigung gegenüber der weiblichen häufig einen größeren Stellenwert ein. Eine Vielzahl von Gelehrten meint, dass die Frau ihrem Mann immer zur Verfügung zu stehen habe, außer bei Krankheit, im Ramadan, bei der Pilgerfahrt nach Mekka oder während ihrer Menstruation. Auch wenn der Mann die Pflicht hat, seine Frau gut zu behandeln, ist mit einer solchen Rechtsmeinung die Vergewaltigung in der Ehe so gut wie erlaubt. Sehr konservative Stimmen sprechen Frauen sogar jede sexuelle Lust und Befriedigung ab oder betrachten sie als nicht so wichtig. Gleichzeitig wird Frauen aber auch häufig unterstellt, immer zu wollen und den Mann mit ihren Reizen von seinen Pflichten abzulenken. Diese Gelehrten sehen den besten Platz für eine Frau im Haus und hinter einem Schleier. Eine besonders drastische Form der Kontrolle der weiblichen Sexualität ist die Mädchenbeschneidung, die vor allem von Muslimen in Afrika praktiziert und von einigen Islamgelehrten gefordert wird. Bei diesem häufig unter schlechten hygienischen Bedingungen und ohne Betäubung ausgeführten Eingriff wird die Klitoris des Mädchens halb oder ganz entfernt.
Liberale und konservative Gelehrte sind sich in einigen Punkten jedoch auch einig, zum Beispiel bei dem Verbot von Analverkehr. Dieser wird in traditionellen Gesellschaften jedoch besonders häufig zwischen Paaren praktiziert, um die Jungfräulichkeit der Frau zu wahren und eine Schwangerschaft zu verhüten. Auch Homosexualität betrachten die meisten Gelehrten als eindeutig in Koran und Sunna verboten. Unverheirateten jungen Männern gestehen die Gelehrten Selbstbefriedigung zur Vermeidung einer schwereren Sünde wie dem verbotenen außerehelichen Geschlechtsverkehr (arabisch: zina) zu; in der Ehe wird Selbstbefriedigung jedoch als nicht mehr nötig und damit verboten bewertet. Das Betrachten von nackten Männern und Frauen in pornografischen Filmen und Zeitschriften zur eigenen sexuellen Erregung kommt auch für sehr liberale Gelehrte nicht in Frage. Männer wie Frauen sollen den Blick vor dem anderen Geschlecht senken und niemanden anzüglich anschauen. Pornografie ist in den meisten islamisch geprägten Ländern folglich nicht frei zu kaufen, findet aber unter der Ladentheke und im Internet reißenden Absatz.

(Stand: 1. August 2013)


 

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