Was sind Schiiten?

Ähnlich wie es bei den Christen mit Katholiken, Protestanten, Orthodoxen usw. Konfessionen gibt, existieren auch im Islam zwei Glaubensrichtungen, nämlich Sunniten und Schiiten, die sich jeweils in weitere kleinere Gruppen unterteilen. Die Schia ist die zweitgrößte Glaubensrichtung im Islam, etwa 15 Prozent der Muslime sind Schiiten. Die überwiegende Mehrheit der Muslime ist sunnitisch (etwa 85 Prozent).
Sunniten und Schiiten trennte zunächst nicht in erster Linie eine unterschiedliche theologische Auffassung, sondern ein politischer Streit um die Nachfolge (arabisch: Khalifa; Kalif) des Propheten Muhammad. Als dieser im Jahr 632 n. Chr. starb, gab es keinen Sohn (Frauen kamen für dieses Amt nicht in Frage), der sein Erbe hätte antreten können, und Muhammad hatte offenbar auch niemanden eindeutig als Nachfolger benannt. Schon den frühen Muslimen galt Muhammad als „Siegel der Propheten“, d.h. nach ihm konnte es keinen weiteren Propheten geben, es ging also zunächst allein um die politische Führung der Gemeinde und nicht um eine neue göttlich inspirierte Person.
Schließlich einigte man sich darauf, dass die führenden Muslime der Gemeinde einen Mann aus dem Stamm Muhammads, den Quraisch, wählen sollten. Die Quraisch herrschten damals über Mekka und waren eine sehr große mächtige politische Verbindung, der neben Muhammads Familie noch viele andere Clane angehörten. Die meisten der frühen Muslime zählten zu den Quraisch. Was aber waren die wichtigsten Eigenschaften, die ein Nachfolger des Propheten aufweisen sollte: eine unmittelbare Abstammung vom Propheten? Die Zugehörigkeit zu einer einflussreichen Familie und hohes Ansehen? Ein früher Übertritt zum Islam und besonderer Einsatz für die Gemeinde? Tiefe Gläubigkeit und Weisheit?
Bereits das Verfahren der Kalifenwahl war umstritten, ebenso die frühen regierenden Kalifen. Die Sunniten nennen die ersten vier Kalifen „die rechtgeleiteten“, die Schiiten hingegen anerkennen nur den vierten, Ali Ibn Abi Talib, den sie Imam Ali nennen. Zum ersten Kalifen wurde einer der frühesten und treuesten Anhänger Muhammads gewählt: Abu Bakr (Kalif: 632-634). Dieser ernannte Omar Ibn al-Khattab (Kalif: 634-644) zu seinem Nachfolger. Omar setzte kurz vor seinem Tod ein sechsköpfiges Gremium ein, das aus seiner Mitte Uthman Ibn Affan (Kalif: 644-656) wählte. Vor allem Uthmans Regentschaft war sehr umstritten. Unter anderem wurde unter seine Direktive der zunächst nur mündlich überlieferte Koran schriftlich fixiert, manche Muslime warfen ihm hierbei Ungenauigkeiten oder sogar Verfälschungen vor. Am Ende wurde Uthman ermordet. Nach ihm wählte man Ali Ibn Abi Talib (Kalif: 656-661) zum Kalifen. Ali war als einziger der vier ersten Kalifen mit Muhammad verwandt, er zugleich sein Cousin und sein Schwiegersohn. Schiiten sehen mit der Wahl Alis nach drei unrechtmäßigen Kalifen nun endlich den richtigen Mann an der Spitze der muslimischen Gemeinde.
Ein Verwandter Uthmans, Muawiyya Ibn Abi Sufyan, der Gouverneur von Syrien war, sann auf Rache für dessen Ermordung. Es kam zu einer Schlacht, in der erstmals Muslime gegen Muslime kämpften. Man einigte sich schließlich in dem Ort Siffin im Jahr 657 auf ein Schiedsgericht, das das stark kritisierte Kalifat Uthmans und die Umstände seiner Ermordung sowie die Rechtmäßigkeit von Alis Anspruch auf Führung der Muslime prüfen sollte. Einige Anhänger Alis waren gegen diese friedliche Lösung, sie wollten ein Gottesurteil in Form eines Kampfes. Diese Gruppe nannte man die Kharijiten (von dem arabischen Verb für hinausgehen). Ihre Nachfahren sind heute als Ibaditen bekannt und stellen die Bevölkerungsmehrheit im Oman.
Die verschiedenen politischen Lager damals waren die folgenden: Die Kharijiten wollten, dass der beste Muslim Kalif würde, egal aus welcher Familie er war – „…und sei es auch ein schwarzer Sklave“. Die Schiiten hingegen (arabisch: Schiat Ali; Partei Alis) glaubten, Muhammad habe Ali zu seinem Nachfolger ernannt und der Kalif müsse immer aus der Familie des Propheten (arabisch: Ahl al-Bait) stammen, also mit ihm blutsverwandt sein. In Auseinandersetzung mit diesen beiden Positionen bildete sich die Gruppe der Sunniten (von arabisch Sunna: Brauch; Tradition des Propheten) heraus. Sie meinen, der Kalif müsse aus dem Stamm der Quraisch stammen.
Ali blieb zunächst Kalif, er war jedoch so umstritten, dass er sich nach Kufa im Irak zurückziehen musste. Mekka und Medina sind seit jeher nicht mehr politisches Zentrum des islamischen Reiches. Im Jahr 661 wurde Ali von einem Kharijiten ermordet und Muawiyya setzte sich als Kalif endgültig durch. Er begründete die Dynastie der Umayyaden (661-750 n. Chr. in Damaskus, später in Córdoba/Spanien), die durch die Erbfolge bestandhatte. Die Zeit der „vier rechtgeleiteten Kalifen“ war damit vorbei, von nun an herrschten verschiedene Kalifen und Gegenkalifen in den eroberten Gebieten, deren Armeen oft gegeneinander Krieg führten.
Als Muawiyya kurz vor seinem Tod im Jahr 680 ungefragt seinen Sohn Yazid als Erben einsetzte, eskalierte die Situation. Der älteste Sohn Alis, Hasan, den die Schiiten als zweiten Kalifen anerkannten, scheute die Konfrontation mit Yazid und verzichtete auf das Amt, doch sein jüngerer Bruder Husein zog gegen die Umayyaden in den Krieg. Nach schiitischer Geschichtschreibung ließen die Schiiten Husain jedoch im Stich. Er starb in der Schlacht bei Kerbala am 10. Muharram den Märtyrertod. Die Umayyaden brachten seinen Kopf als Trophäe in ihre Hauptstadt Damaskus. Seitdem ziehen besonders gläubige Schiiten jedes Jahr an Aschura (arabisch: zehnter Tag des Monats Muharram) wehklagend und sich selbst mit Messern und Ketten geißelnd durch die Straßen, um ihre Schuld zu sühnen.
Die Trennung der Muslime in Sunniten und Schiiten war mit der Schlacht von Kerbala vollzogen. Nun entwickelten beide Richtungen auch ein unterschiedliches theologisches und religionsrechtliches Verständnis.
Die Lehre vom Kalifat (Sunniten) bzw. Imamat (Schiiten) ist der entscheidende Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten. Nach Auffassung der Sunniten kann jeder muslimische Mann Muhammads politische Nachfolge antreten, der Kalif hat allein weltliche Autorität, wenn er seine Aufgabe nicht erfüllt, wird er abgesetzt und jemand anderes gewählt. Der schiitische Imam (arabisch: Vorsteher) hingegen ist eine politische und religiöse Führergestalt. Er gilt als durch Gott legitimiert, manche Schiiten vergöttlichen den Imam auch. Er stammt von Ali und Fatima ab und ist damit unmittelbarer Nachfahre des Propheten Muhammad, er wird also nicht gewählt, sondern ist durch die Erbfolge vorherbestimmt. Schiiten kennen eine Reihe von zwölf Imamen beginnend mit Ali und seinen Söhnen Hasan und Husein. Im Lauf der Zeit kam es jedoch zu innerschiitischen Streitigkeiten über die Erbfolge und zu erneuten Abspaltungen: So gibt es heute Fünfer-Schiiten (Zaiditen), Siebener-Schiiten (Ismailiten) und Zwölfer-Schiiten (Imamiten/Dschaafariten). Die Zahlen und Bezeichnungen entspringen jeweils den anerkannten Imamen und deren Namen. Die Zwölfer-Schiiten sind die größte und bedeutendste Gruppe. Nach ihrer Lehre wurden fast alle zwölf Imame ermordet, nur der letzte, Imam Mahdi, lebt als einziger Überlebender in der Verborgenheit; die Schiiten warten auf seine Wiederkehr und den Beginn eines Gottesreiches auf Erden.
Schiitische Dynastien konnten bis auf wenige Ausnahmen nur an den Rändern des islamischen Reiches entstehen, die großen Zentren wurden von sunnitischen Kalifen beherrscht. Die bedeutendsten schiitischen Dynastien bildeten im Jemen die Zaiditen (897–1962) und im gesamten Nahen Osten die Fatimiden (909–1171), im Iran existiert bis heute ein schiitisches Staatswesen mit einem sogenannten Ajatollah (persisch: Zeichen Gottes) an der Spitze. Ein Ajatollah gilt als Vertreter des in der Verborgenheit befindlichen Imam Mahdi.
Heute leben die meisten (Zwölfer-)Schiiten im Iran (ca. 90 Prozent der dortigen Bevölkerung), in Aserbaidschan und Bahrain (je ca. 70 Prozent) und im Irak (ca. 65 Prozent) sowie im Jemen (30 bis 35 Prozent), im Libanon (ca. 30 Prozent), in Kuwait (ca. 30 Prozent), in Syrien (etwa 17 Prozent), in den Vereinigten Arabischen Emiraten (ca. 16 Prozent) und in Saudi-Arabien (fünf bis zehn Prozent). In der Türkei gibt es mit den Aleviten eine Glaubensgruppe, die sich aus der Schia entwickelt hat, sie machen etwa 15 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Von den rund 4 Millionen Muslimen in Deutschland sind nur sieben Prozent Schiiten und 13 Prozent Aleviten. Die meisten Schiiten sind Kriegsflüchtlinge aus dem Iran, Irak und Libanon, die große Mehrheit der Aleviten stammt aus der Türkei.

(Stand: 4. Juli 2015)


 

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