Wie ist es passiert, dass islamisch geprägte Länder heute rückständiger sind, obwohl sie früher viel fortschrittlicher waren als christliche?

„Während das christliche Europa noch im ‚Mittelalter‘ verharrte, erlebte die islamische Welt ‚goldene Zeiten‘.“ Diese schwarz-weiße Gegenüberstellung hört man oft, wenn man die Geschichte des Islams mit der des Christentums vergleicht. Und ebenso weit ist die Aussage verbreitet, heute sei die islamisch geprägte Welt bzw. der Islam rückständig und „dem Westen“ bzw. dem Christentum unterlegen.

Aber worauf bezieht sich diese angebliche Überlegenheit der einen und die Rückständigkeit der anderen – auf die Wirtschaftskraft, das politische System, die Einhaltung der Menschenrechte, wissenschaftliche Forschungen, Kunst und Literatur? Und was versteht man eigentlich unter „dem Islam“ und „dem Christentum“?

Die islamisch geprägte Welt reicht von Marokko bis Indonesien; weltweit gibt es rund 1,8 Milliarden Musliminnen und Muslime. Die etwa 2,2 Milliarden Christen leben vor allem in Europa, Nord- und Südamerika und Afrika. Jedes Land der Welt hat eine individuelle Geschichte und ein eigenes politisches und gesellschaftliches System, pflegt unterschiedliche Sprachen und Traditionen, begegnet anderen Herausforderungen in seiner Umwelt.

Es ließe sich eine fast unendliche Liste darüber anfertigen, was in den einzelnen Ländern jeweils gut- bzw. schiefläuft. Dabei wird schnell deutlich, dass die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung nicht ursächlich für den Erfolg oder Misserfolg eines Landes im weltweiten Vergleich ist, sondern ganz andere Faktoren darüber entscheiden. Die Abwertung einer riesigen geografischen Region bzw. einer Weltreligion als „rückständig“ ist also viel zu pauschal. Oft dient sie einfach der Aufwertung der eigenen Religion und Kultur, heutzutage also der christlichen oder westlichen.

Und doch hört man auch von Musliminnen und Muslimen heute selbst manchmal die Klage, ihre Gesellschaften würden in Krieg, Chaos und Armut versinken und gegenüber „dem Westen“ zurückstehen.

Die Auseinandersetzung mit den Ursachen der zweifelsohne vielfältigen Probleme in zahlreichen islamisch geprägten Ländern ist komplex . Hierbei handelt es sich in erster Linie um eine politische Frage, zu der es unterschiedliche, teils auch kontroverse Meinungen und Erklärungsversuche gibt. Die am weitesten verbreitete Auffassung unter arabischen wie europäischen Geschichtswissenschaftlern besagt, dass die Grundursache für die aktuellen Krisen zum Beispiel im Nahen und Mittleren Osten im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Damals gerieten die meisten Regionen Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens in koloniale Abhängigkeit.

Die europäischen Mächte besetzten die Länder, beuteten sie wirtschaftlich aus, zogen willkürliche Grenzen und spielten die einzelnen Volksgruppen gegeneinander aus. Sie legten damit die Grundsteine für vielfältige Konflikte, die bis heute in diesen Regionen ausgetragen werden. Um zu verstehen, was zum Beispiel in Ländern wie Iran, Syrien oder Irak geschieht, muss man tief in deren Geschichte eintauchen. Ihre jeweilige gesellschaftliche und politische Lage lässt sich nicht einfach dadurch erklären, dass sie islamisch sind.

(Stand: 30. April 2020)


 

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